Wundentag.
Heute ist ein Wundentag. Ein Wundentag ist ein Tag oder sind Stunden, wo sich eine alte Wunde zeigt.
Wo die Traurigkeit der Gast in meinem Herzen und in meinem Körper ist.
Ganz früher habe ich gelernt, sowas nicht spüren zu sollen und zu wollen.
Im Sinne von “ein Indianer kennt keinen Schmerz” habe ich diese Teile von mir abgespalten und tief begraben.
Damit sie mich nicht dabei stören, mein Leben zu leben.
Das ging in jungen Jahren noch besser als heute.
Heute fehlt einfach die Energie, die es zum Unterdrücken braucht. Der Göttin sei dank.
Als ich vor nun fast 15 Jahren auf den spirituellen Weg fand, habe ich den Umgang mit Schmerz und Wunden so interpretiert, dass ich nur die richtige Technik anwenden muss und dann transformiere ich all das Dunkle, abgespaltene und nicht gewollte in schönes und reines Licht.
Im Sinne von, so, wie ich bin, ist es noch nicht ganz okay, aber wenn ich nur das richtige Ritual oder dem richtigen Weg folge, dann wird das schon.
Was ich erst später bemerkte, dass ich voll in die spirituelle Optimierungsfalle getappt war. Denn auch so habe ich noch weiter gespalten und mich nicht in meiner Ganzheit akzeptiert und gewollt.
Erst eine tiefe Depression vor ein paar Jahren hat mich dann sehr nachhaltig gelehrt, dass ich hinschauen und vor allem hinfühlen muss.
Dass es keine Abkürzungen und Umgehungsstraßen gibt.
Dass der Weg “raus” der Weg “durch” ist, beziehungsweise in der vollständigen Akzeptanz dessen liegt, was gefühlt werden will.
In dieser Phase konnte ich zusehen, wie mir mein ganzes Leben vor meinen Augen entglitt und keine meiner angeeigneten Techniken mehr gegriffen hat.
Es hat über ein Jahr gedauert, sich durch all das durch zu fühlen, was sich im Laufe von Jahrzehnten angesammelt hatte.
Heute merke ich schon meistens ein paar Tage vorher, wenn sich etwas anbahnt und an die Oberfläche meiner Wahrnehmung kommen mag.
Manchmal falle ich in alte Muster und probiere es wegzumachen und wegzudrücken. Was mittlerweile - auch hier der Göttin sei Dank - nur noch bedingt funktioniert.
Wenn es dann da ist, das Gefühl, heute ist es die Traurigkeit, dann ist sie da. Voll und ganz. Eine sehr alte Wunde zeigt sich. Sie fühlt sich sicher genug, um sich zu zeigen.
Ich liege zusammengerollt auf dem Bett und fühle sie.
Sie sitzt in meinem Herzen. Mein Herz tut weh. Sehr weh. Es zerbricht mal wieder. So viel Schmerz. Manchmal kann ich weinen, manchmal nicht. Das ist okay. Ich halte meinen Schmerz und die Wunde wie ein kleines Kind und wiege sie sanft. Ich atme sanft dorthin. Weiß, dass ich heute nichts anderes tun muss, außer für mich da zu sein. Ohne damit irgendetwas machen zu müssen.
Ich muss meinen Schmerz weder transformieren noch an mir und meinem positiven Mindset arbeiten. Ich bin einfach für mich da.
So halte ich mich sanft, solange ich das brauche und atme in die Wunde. Gebe dem, was sich zeigt, einfach Raum. Und Zeit. Solange es braucht. Bis mein Herz all seine Tränen geweint hat. Ich wiege es sanft.
Im Wissen, dass alles vorüber geht und meine Wunde eben auch zu mir gehört, entspanne ich mich. Kann es mir erlauben, für mich weich zu werden. Für mich und mein Herz und meine Wunden. Für alles, was mich ausmacht.
Wenn mein Herz sich sicher und geliebt genug fühlt, flüstert es mir zu, was es braucht.
Manchmal ist das einfach weiter gehalten zu werden, manchmal ist das ein Bild zeichnen oder so einen Text schreiben und manchmal ist es auch ein Eisbecher.
Ich bin für mich da. So sind die Wundentage.
Kannst du mit dir und deiner Wunde sitzen und sein?
Eine kleine Anleitung für das Sitzen mit der Wunde:
- Schließe die Augen und atme ein paar tiefere und bewusste Atemzüge.
- Spüre deinen Körper und nehme die präsenteste Körperstelle wahr, die jetzt Aufmerksamkeit braucht. Wo und wie spürst du deine Traurigkeit, Angst, Wut?
- Dann atme ganz einfach sanft dorthin, berühre mit deinem Atem und deinem Wohlwollen die wunde Stelle.
- Halte dich innerlich mit deinem ganzen Wohlwollen und lass dich ansonsten in Ruhe.
- Gib dir und dem, was sich zeigt, Raum. Raum und Zeit.
- Bleibe dort, bis du einen innere Bewegung fühlst und merkst, dass sich etwas ändert.
- Fühle, was du dann abschließend noch brauchst und schenke dir das.
Falls du hier tiefer gehen magst und dabei Unterstützung und einen sicheren und gehaltenen Raum brauchst, dann vereinbare gerne einen Termin für eine Einzelsitzung.
„Mitgefühl ist nicht eine Beziehung zwischen einem Heilenden und einem Leidenden. Es ist eine Beziehung auf Augenhöhe. Nur wenn wir unsere eigenen Schattenseiten gut kennen, können wir für die dunklen Seiten anderer präsent sein. Mitgefühl wird Wirklichkeit, wenn wir die uns verbindende Menschlichkeit in uns und im anderen erkennen.“
— Pema Chödrön
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Ursula Ulla Ka (Montag, 15 Januar 2024 22:18)
Wie wundervoll schön Du diesen Wundentag beschreibst - der Göttin sei Dank.
Danke für Dein Sein und Deinen Weg und Dein mit dem Schmerz und der Trauer umgehen, mit ihnen sein, weinen, schaukeln, wiegen, so lange es eben braucht - wundervoll. Und eine so sanfte und liebevolle Einladung, dass wir, die den Text lesen, auch mit unseren Schmerzen und Traurigkeiten einfach sein dürfen. Und wissen, wenn wir Unterstützung brauchen, da ist eine, die kennt sich aus - DANKE ��
Sina (Montag, 15 Januar 2024 22:23)
Danke dir, liebe Ursula. Für das Lesen und tiefe Verstehen und Sehen :-)